Lebensraum untertage
Ein besonders sensibler – und von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommener – Lebensraum befindet sich unter der Erdoberfläche. Natürliche Höhlen und grundwasserabhängige Ökosysteme beherbergen eine Vielzahl von Arten, die auf für sie lebenswichtige konstante Umweltbedingungen angewiesen sind. Schon kleine Eingriffe des Menschen in diese Ökosysteme können negative Auswirkungen auf die biologische Vielfalt des subterranen Lebensraums haben, die nicht mehr rückgängig zu machen sind. Das ist auch schon deshalb von großer Tragweite, weil viele Höhlen als natürliche Zugänge zum Karst- und Grundwassersystem zu betrachten sind, welches für die Trinkwasserversorgung eine enorme Bedeutung hat. So können Eingriffe des Menschen zu einer völligen Veränderung der natürlichen Biofilme, bestehend aus einer Vielzahl von speziell angepassten Mikroorganismen, führen.
Werden Höhlen als Lebensraum betrachtet, so können weltweit zwei große Ökosystemstrukturen unterscheiden werden. Zum einen gibt es die Höhlen in den gemäßigten Klimazonen, in denen neben der ewigen Dunkelheit und der hohen Luftfeuchtigkeit vor allem konstant niedrige Temperaturen und ein geringes Nahrungsangebot einen großen Einfluss auf die Besiedelung des unterirdischen Lebensraums haben. Daneben existieren die gigantischen Höhlensysteme der Tropen, die sich durch warme Temperaturen und ein hohes Nahrungsangebot auszeichnen.
Der Stoffkreislauf der Natur bewirkt, dass Tiere mit Nahrung versorgt werden. An der Erdoberfläche bauen Pflanzen bei der Photosynthese mit Hilfe von Sonnenenergie, Wasser und CO2 Kohlenhydrate auf. Diese bilden die Nahrung für Pflanzenfresser, die wiederum einer Kette von Räubern zum Opfer fallen. Deren Kot und Kadaver werden von Zersetzern wie Pilzen und Bakterien zu Mineralstoffen verarbeitet, die dann wieder den Pflanzen als Nährstoffe dienen, womit sich der natürliche Kreislauf schließt. Doch wie funktioniert dieser Kreislauf in einer Höhle, wo die Pflanzen fehlen?
Organisches Material kann hier nur von der Erdoberfläche eindringen. Dies geschieht regelmäßig durch Wasser, Luft und den Eintrag durch Lebewesen. Kot und tote Tiere werden auch hier von Pilzen und Bakterien zersetzt, allerdings mit dem Unterschied, dass die freiwerdenden Nährstoffe nicht von Pflanzen verarbeitet werden, sondern im Höhlenboden verbleiben. Dieses System kann nicht selbständig funktionieren und bleibt immer von der Außenwelt abhängig. Wenn der Nährstoffeintrag unterbrochen wird, kann dies den Zusammenbruch des Höhlenbiotops bedeuten.
Pflanzen können in Höhlen unter natürlichen Bedingungen nicht überleben, da das für die Entwicklung wichtige Sonnenlicht fehlt. Eine Ausnahme hiervon bildet die so genannte Lampenflora, eine spezielle Artengemeinschaft, der für die Energieproduktion die künstliche Beleuchtung der Besucherhöhlen ausreicht. Hierzu zählen vor allem Algen, Moose und Farne, die an der Erdoberfläche bevorzugt in schattigen Nischen wachsen und deren Keime und Sporen zumeist mit dem Besucherverkehr, durch Wasser oder durch Luftströmungen in die Höhle getragen wurden. Obwohl sie ihre Energie durch Photosynthese erhalten, können sie, wenn im Winter die Höhle für Besucher geschlossen ist, fast ein halbes Jahr lang trotz Dunkelheit überleben. Die Pflanzen in den Höhlen stellen während der Wintermonate die Photosynthese ein und sind trotzdem lebensfähig. Sporenpflanzen wie Moose weisen zudem eine im Gegensatz zu den Blütenpflanzen etwas andere Zusammensetzung des grünen Blattfarbstoffs, des Chlorophylls, auf. Er ist besser an das schwache Licht und die lange Dunkelheit angepasst und ermöglicht so ein längeres Überleben. Das weitaus wichtigere Überlebenskriterium ist aber die weitgehend konstante hohe Luftfeuchtigkeit, die auch im Winter bei fast 100 Prozent liegt. Diese bietet der Lampenflora optimale Lebensbedingungen und damit einer Vielzahl von Höhlentieren ein erweitertes Nahrungsangebot.